Der nachfolgende Text stammt aus dem Buch “Erlebnis sanfte Geburt”
Meine Mutter sehe ich oft länger als ein Jahr nicht. Sie lebt in Tirol, ich in Sommerrein am Leithagebirge. Um mich zu besuchen, muss sie von der französischen Besatzungszone über die amerikanische in die russische fahren. Das ist sehr gefährlich, man kann verhaftet werden, fast jeder Besuch ist mit einem Abenteuer verbunden. Sie ist sehr tapfer, wenn sie mich besuchen kommt.
Ich lebe bei meinen Großeltern auf einem gepachteten Bauernhof, drei Kühe und zwei Pferde sind unser Stolz. Im Winter geht der Großvater “in die Fabrik” arbeiten.
lrgendwo in Afrika gibt es einen Vater. Er ist Arzt im Urwald. Mehr weiß ich nicht, es gibt keine Fragen und keine Antworten, über meine Mutter stelle ich nie Fragen, erhalte aber viele Antworten. Sie ist eine ganz besondere Frau – aber weit weg. Sie will, dass aus mir etwas “Besseres” wird. Es gibt noch eine wichtige Frau in der Familie, “die Tante” (die Schwester meiner Mutter), sie ist immer da, wenn ich sie brauche, ganz selbstverständlich.
Um etwas “Besseres” zu werden, muss ich mit 9 Jahren nach Zwettl, Die einzige Schule, die mich so aufnimmt, wie ich bin und das billigste Internat. Man verlangte von mir eine vollkommen unverständliche Tätigkeit: Lernen. Um das zu verstehen, absolviere ich die erste Klasse dreimal. Dies war damals in Zwettl möglich. Auch in den folgenden Jahren waren die meisten meiner Lehrer der Meinung, der Wunsch meiner Großeltern würde in Erfüllung gehen – dass ich ihren Bauernhof übernehme. Ab der fünften Klasse ist der Bann gebrochen, das Maturazeugnis reicht für ein Begabtenstipendium.
Mit 23 Jahren sehe ich meinen Vater zum ersten Mal, im Warenhaus Stern in der Kärntner Straße. Ein eleganter Herr in Salzkammergutloden mit markantem Gesicht, Ich weiß sofort, das ist mein Vater. (Mein ehemaliger Jugendamtsbetreuer halte mich schon vor einigen Wochen benachrichtigt, dass er nach Wien kommen werde und mich zu besuchen beabsichtige.) Ich beobachte ihn eine zeitlang, spreche ihn aber nicht an. Wenn er mich finden will, wird er schon wissen, wo er mich findet, wenn nicht … ich bin bis jetzt auch allein zurechtgekommen. Zwei Tage später klopft er an meine Zimmertüre.
Zwei Generationen, zwei Weltanschauungen, zwei ganz unterschiedliche Gesellschaftsschichten – und doch viele Gemeinsamkeiten, kein Vorwurf.
Im Jahr darauf fahre Ich auf eigene Initiative mit selbstverdientem Geld nach Südafrika. Ich famuliere in einem Goldminenspital und in einem ganz entlegenen Mlssionsspital, fahre in das bereits im Krieg mit den umgebenden Staaten liegende Südrhodesien (jetzt Simbabwe), schlafe im Busch, nur mit einem Messer bewaffnet. Afrika gefällt mir, hier möchte ich als Arzt bleiben. Mein weiteres Studium orientiert sich an diesem Ziel. Ich bin allein, ich kann niemanden fragen, was ich nicht weiß, weiß sonst auch niemand.
Ein Jahr später besuche ich meinen Vater in Arusha, Tanzania. Er betreibt hier zusammen mit einem Arzt aus Griechenland eine Privatklinik. Ich lerne meine beiden Schwestern kennen. In Tirol leben zwei Schwestern und ein Bruder mit meiner Mutter. Jetzt habe ich fünf Geschwister und war immer ein Einzelkind. Die eine “Afrikaschwester” ist mit einem österreichischen Grafen, die andere mit einem englischen Lord verheiratet. Beide Großwildjäger – white hunter darf man nicht mehr sagen.
Die “Stiefmutter” nimmt die neue Situation mit einer gewissen Heiterkeit als Herausforderung an. Wir treffen eine Übereinkunft, schließen einen Pakt: Es ist vorteilhaft, in einer wohlhabenden “besseren” Familie geboren zu werden, diese Tatsache ist aber keinesfalls als ein Verdienst desjenigen anzusehen, der dort geboren wurde. Wir wollen die Menschen nach ihren persönlichen Verdiensten und Leistungen beurteilen und nicht nach Zufälligkeiten, für die sie nichts können.
Somit bin ich gleichgestellt, es gibt keine Vorwürfe und auch keinen “Kleinhäuslermakel”. Es steht aber außer Zweifel, dass gewisse gesellschaftliche Umgangsformen von Nutzen sind. – Ich lernte Handküssen und den Umgang in “feiner Gesellschaft” .
Die Medizin hier ist ganz nach meinem Geschmack: “Facharzt für alles”. Wir operieren, röntgenisieren, haben unser eigenes Labor, wir schneiden Beulen auf, behandeln akute Infektionen und resignieren bei Tetanus. Wir kämpfen gegen Krankheit mit dem Skalpell, mit Injektionen und Antibiotika. Die Seele ist keine Krankheitsursache. Selbstverständlich sind wir respektvoll gegenüber den Patienten, Wir behandeln sie freundlich.
Ich möchte die Klinik meines Vaters übernehmen.
In Europa ereignet sich das Jahr 1968. Ich werde hineingezogen in die Zeit des Umdenkens, der neuen Hoffnung. Für uns beginnt eine neue Zeitrechnung, vor 68 – nach 68. Meine Mischung von Albert Schweitzer und Out Of Africa wird zu einem gesellschafts- und gesundheitspolitischen Engagement.
Der Marsch nach Afrika wird durch den “Marsch durch die Institutionen” ersetzt. Ich heirate. Durch meine Frau bekomme ich einen riesigen Freundes- und Bekanntenkreis. Wir wohnen in einem Vorort Wiens, in einem schönen, alten Haus mit Garten, wenige Meter vorn Wald entfernt. In der Stadt wäre ich nicht geblieben. Nicht einmal im Traum habe ich mir vorgestellt, dass ich jemals so wohnen würde.
1971 wird mein Sohn Sebastian in der Ersten Univ. Frauenklinik geboren. Ich kam nicht im entferntesten auf die Idee, bei der Geburt dabei sein zu wollen. Ich fand es selbstverständlich, dass er sofort nach der Geburt: ins Kinderzimmer gebracht wird. Meine Frau ist unglücklich und weint, weil unser Sohn so selten gebracht wird. Sie fürchtet, dass er nicht gesund ist. “Er ist so schlimm, er schreit so viel”, sagt die Kinderschwester. Den Herrn Professor stört es bei der Visite sehr, wenn ein Buch (auch ein “gutes”) auf dem Nachtkästchen liegt, und die Hausschuhe müssen ordentlich ausgerichtet unter dem Bett stehen. Dass das Stillen auf seiner Abteilung zu nahezu 100% nicht klappt, stört ihn weniger.
21 Monate später wird Barbara geboren. Ich bin bei der Geburt zufällig anwesend, sie wird ebenfalls sofort ins Kinderzimmer abtransportiert. “Mutti Bussi” ist die übliche Kurzformel, und das Kind ist weg.
Die Begründung: Infektionsgefahr. Die Mutter ist also gefährlich für ihr neugeborenes Kind. Niemand denkt darüber nach, auch ich nicht. Viele Frauen haben Depressionen, aber im Interesse des Kindes muss es wohl so sein. Alle Frauen bekommen nach der Geburt Medikamente. Bei meiner Frau fühlt sich jeder Oberarzt berufen, ein eigenes Spezialmedikament zusätzlich dazu zu schreiben. Ich vereinbare mit ihr, dass sie nichts schluckt, und mit den Schwestern, dass nichts gespritzt wird. Mit den Oberärzten rede ich nicht. Das Stillen funktioniert besser als beim ersten Mal, aber auch nicht lang. Der Vier-Stunden-Rhythmus, das Abwiegen vor und nach dem Stillen, das Abpumpen und Zufüttern ist “nicht auszuhalten”.
Das Frauenhospiz ist eines der schönsten Spitäler Wiens. Klein, überschaubar, jeder kennt jeden, in einem Villenviertel gelegen, Dachterrasse (nur für das Personal), und nach dem Nachtdienst habe ich frei. Ausblldungsplätze für Fachärzte werden schon rar. Praktischer Arzt würde mir am meisten liegen, aber die Realität spricht dagegen. Ich gehöre zu den Jungärzten mit unbefristetem Vertrag. Eine diffuse Empfehlung wird bei uns unter der Hand weitergegeben: Melde dich möglichst rasch für eine Ausbildungsteile an, irgendwo wird es schon klappen. Das Haus und die Arbeitsbedingungen gefallen mir sehr, die Frauenheilkunde, na ja, es kommt sicher noch etwas Besseres: Chirurgie oder Unfallchirurgie. Ich melde mich an. Mehrere Bewerber sind vor mir gereiht, wenig Chancen. Es bekümmert mich nicht sehr.
In der Gesundheitspolitik herrscht Aufbruchsstimmung, der Beginn der “siebziger Jahre”. Kreiskys Reformpläne machen Mut. Das Gesundheitsministerium wird gegründet und das Bundesinstitut für Gesundheitswesen (ÖBlG). Es soll die Ideenfabrik für die neue Gesundheitspolitik werden. Als ich wenige Monate nach seiner Gründung als Konsulent aufgenommen werde, hat der erste Geschäftsführer bereits das Handtuch geworfen. Die Bürokratie ist zu träge und innovationsfeindlich. die Versprechungen stimmen nicht. Mein Aufgabengebiet wird die Vorsorgemedizin.
Im ÖBIG lerne ich viel. Medizin ist nicht gleich Medizin. Was bei uns undenkbar ist, ist etwa in Holland selbstverständlich. Medizin wird nicht nur um der Patienten willen betrieben. Es gibt andere Interessen, Ehrgeiz, Karriere, Geld, Macht. Sie prägen Entscheidungen und verhindern Entwicklungen – sie erzeugen Krankheit. Ich fange an zu verstehen, auch Gesundheit ist wichtig, sie kann erhalten werden, sie kann verbessert werden. Gesundheit verlangt anderes Denken, andere Strategien und andere Methoden als Krankheit. Ich merke mit Schrecken, wie gefährlich es ist, wenn es den Wissenden (Experten) und Mächtigen an Weisheit und Persönlichkeit mangelt.
Einige Jahre später werde ich in den Hauptverband der Sozialversicherungsträger berufen, Sehr ehrenhaft. Die wesentlichen Entscheidungen fallen in der Sozialversicherung, nicht im Gesundheitsministerium. Die Frau Minister ist beleidigt, Sie behauptet, einen ihrer besten Mitarbeiter zu verlieren. Sie hat keinen einzigen meiner Ratschläge angenommen – annehmen können?
Im Hauptverband lerne ich Macht und “Mächtige” verstehen, Was sich anderswo bewährt, kann bei uns verpönt sein, Nicht weil es falsch ist, sondern weil es Machtinteressen bedroht. Der mündige Bürger ist für die einen bedrohlich, der mündige Patient für die anderen. Dies schafft “natürliche Verbündete” auch bei scheinbaren Gegnern, Die Macht ist groß bei der Erhaltung des Status quo, heim Verhindern von unliebsamen Änderungen, Der Kreativitätsspielraum minimal. Ich will das nicht wahrhaben. Bei Auftritten im Fernsehen und in anderen Medien zeige ich Missstände auf und mache Verbesserungsvorschläge. Es gibt das erste Disziplinarverfahren von seiten der Ärztekammer. Die “Patientenvertretung” unterstützt mich nicht.
Während ich die großen Probleme und Aufgaben im Auge habe und daran scheitere, werde ich fast nebenbei Facharzt. Hier gelingt alles, Worum sich andere mit übergroßem Aufwand bemühen – eine Ausbildungsstelle zu erhalten, fällt mir in den Schoß. Alle meine Mitbewerber verschwinden aus unterschiedlichsten Gründen, ich werde ständig vorgereiht.
Mein Ziel in der Sozialversicherung ist der Aufbau einer einheitlichen Gesundheitsbildung, finanziert aus den gesetzlich zweckgebundenen Mitteln für Vorsorgemedizin. Die zu vermittelnden Inhalte sollen Selbsthilfemaßnahmen und Gesundheitsverbesserung lehren. Echte Präventivmedizin im Sinne von Gesundheitserhaltung und Krankheitsverhinderung bedeutet Lebensqualität und spart viel mehr Geld als sie kostet. Geburtshilfe ist in erster Instanz Vorsorgemedizin von der Schwangerenbetreuung bis zum Stillen. Ein Großteil der Geburten könnte in diesem Bereich abgewickelt werden, Tatsächlich wäre nur bei relativ wenigen Geburten ein medizinischer Eingriff notwendig,
Was im Großen nicht gelingt, gelingt im Kleinen auch nicht. Die Geburtsbedingungen und die Betreuung im Spital, in dem ich arbeite, sind inhuman, Die Kaiserschnittrate ist hoch, wenn kein Kaiserschnitt, dann ein Scheidendamm¬schnitt, kein Mutter-Kind-Kontakt nach der Geburt. Der Prozentsatz der Frauen, die nach drei Monaten noch voll stillen, ist nahezu Null. Viele Tränen, Depressionen, Schuldgefühle – ich habe versagt, ich kann mein Kind nicht: stillen, Ich fange an zu verstehen, nicht die Frauen “versagen”, sondern wir machen krank, Im Spital lässt sich ebenfalls nichts ändern. Es gibt nur Unwilligkeit, keine Argumente. Macht ist wichtiger als Gesundheit.
Im Spital werde ich gekündigt, überraschend für mich, Ich hatte einen unbefristeten Dienstvertrag, In der Sozialversicherung kündige ich, überraschend für die anderen.
Ich möchte für die sich anbahnende Entwicklung keine Verantwortung übernehmen, Bin ich verrückt? Aus dieser Position ist eine “gute Karriere” fast vorprogrammiert. Ich aber sehe einen Preis, der dafür gezahlt werden muss, Ich erlebe die Mächtigen “hautnah”, Ich weiß, viele haben anders angefangen, auch sie hatten Ideale – einmal-, ich höre es aus den Gesprächen, zwischen den Worten – leise, Ein “Chefarzt” oder “Hofrat” kostet seinen Preis, der kann sehr teuer werden, mir ist das Risiko zu gross.
In drei Monaten ist meine Ordination fertig, Auch hier gelingt alles. Nach zwei Jahren muss ich eine Aufnahmesperre einführen. Ich bin immer wieder verwundert, dass ich Frauenarzt hin, so ganz akzeptiere ich das noch nicht. Ich habe Respekt und Achtung vor Frauen, ich bin loyal und ehrlich und – verstehe wenig, “Das falsche Mittel in der Hand des richtigen Menschen wird gut“, sagt ein chinesisches Sprichwort. Ich stehe zu dem, was ich richtig finde, und verspreche. Die nächste Serie von Konflikten beginnt.
Auch im Privatspital ist es ein Ärgernis, wenn Frauen während der Wehen herumgehen, Ich muss ausdrücklich die Verantwortung für diesen “gefährlichen Unsinn” übernehmen: Auch hier ist die Mutter gefährlich für ihr Kind. Am einfachsten wäre, es bliebe im Kinderzimmer, Ich weiss nicht, wie ich die Kinderschwester bei der Gehurt besänftigen und beschäftigen soll. Alles, was sie tun will, wozu sie glaubt bezahlt zu werden, soll nicht geschehen.
Das Kind soll nach der Geburt der Mutter auf den Bauch gelegt werden, es soll nicht gleich abgenabelt oder ohne Grund abgesaugt werden, es soll nicht gleich gebadet und angezogen werden, es soll nicht. gleich ins Kinderzimmer gehracht werden, Es soll überhaupt im Normallall bei der Mutter bleiben.
Der “Zauber des Neubeginns” soll auch nicht durch Messen und Wägen gestört werden, Ich muss durch meine physische Anwesenheit dafür sorgen, dass vieles nicht geschieht, was ich den Frauen versprochen habe, dass nicht sein wird. “Wenn das, was Sie machen, Schule macht, sind wir arbeitslos”, sagt eine Kinderschwester zu mir. Sie hat recht.
Ich hätte lieber Harmonie, aber ich muss zu den Frauen halten, ich habe es versprochen.
Die Ratschläge, die von den Kinderschwestern gegeben werden, führen mit großer Wahrscheinlichkeit zu Stillproblemen und Abstillen. Die Stillquote ist auch tatsächlich sehr gering, Ich gebe andere Ratschläge, andere Frauen hören das. Sie fragen eine Kinderschwester, ob dies nicht vernünftiger sei. Ich höre die Antworten nicht. Die anderen Frauen im Zimmer fragen ihre Frauenärzte, warum sie während der Eröffnungsphase nicht herumgehen durften, wieso das Kind nach der Geburt nicht bei ihnen bleiben durfte, und vieles mehr.
Die Frauen reden untereinander und erzählen ihre Erlebnisse. Sie treffen sich Monate nach der Geburt. Die von mir betreuten Frauen stillen fast immer, die anderen meist nicht. Die Antworten und Erklärungen, die von meinen Kollegen dafür gegeben werden, sind nicht schmeichelhaft für mich. Ich höre sie nur von den Frauen, die nicht daran glauben, den Arzt wechseln und zu mir kommen. In wenigen Jahren bin ich der Arzt mit den meisten Privatgeburten und mit den meisten Anfeindungen von Seiten der Kollegen. Erfreulicherweise höre ich nicht alles, was über mich gesagt wird. “Einmal erwischt es ihn, dann Anzeige – Anklage.” Diesen Satz höre ich immer wieder, er macht mir Angst. Ich weiß, meine Feinde werden die Gutachter sein, ich vertraue auf die Justiz. Vom Ordinarius der Ersten Frauenklinik wird ein Disziplinarverfahren gegen mich angestrengt: “Werbung für Sanfte Geburt.” In den Vorlesungen wird ausdrücklich vor der Sanften Geburt gewarnt.
Es gibt eine Sicherheit für den Arzt und eine Sicherheit für Mutter und Kind. Beide decken sich nicht, schließen einander sogar aus. Ich entscheide mich für das zweite.
Bei einem Kongress in Salzburg lerne ich Dr, Adam kennen, er ist auch im Umbruch, mit der Situation im Spital unzufrieden. Einige Zeit später kommt er mit einem Vorschlag. Er hat ein Haus geerbt, er will ein “Entbindungsheim” gründen, Ob Ich mitmache? Ich halte es für eine unüberlegte Idee. Ich kenne die Gesundheitsbürokratie, die “Kliniker”, ich sehe die Schwierigkeiten, die kommen werden. Aber – man darf Ideen nicht gleich abwürgen, er wird schon draufkommen. Er kommt nicht drauf, arbeitet mit Feuereifer und investiert Geld. lch muss Farbe bekennen. Ich stehe zu meinem Wort, ich mache mit. Die anderen springen ab, wir beide bleiben über.
Die Schwierigkeiten sind grösser als erwartet – ich habe viele erwartet. Das Organisieren, Planen, Ideen-Haben macht mir Spaß, es ist mein Element. Fast alle Frauen werden vor uns gewarnt, es ist. ein harter Kampf, ich kann überzeugen. Der Großteil der Schwangeren kommt anfangs aus meiner Ordination. Ich hin der “Aussen- und Verteidigungsminister”, Michael der “Innenminister”. Er findet und motiviert die Hebammen, er führt die Supervision ein, er gestaltet die Teamarbeit.
Warum mache ich das? Ich habe sehr gut verdient. Jetzt verdiene ich weniger, habe mehr Arbeit und mehr Risiko. Mit fällt eine Parallele zu meinem Namen auf Volk-her, der vor dem Volke herzog. Dort ist es einsam, unsicher, aber abwechslungsreich. Die Pioniere, die einsamen Helden, the lonely wolfs, haben mir immer imponiert. Trotz hierarchiefreiem Team und Zusammenarbeit bleibe ich das im Inneren. Was immer geschieht, ich möchte die Herausforderungen meines Lebens. annehmen. Das Geburtshaus Nußdorf ist so eine Herausforderung. Die Arbeit in Nußdorf macht mir viel Freude – sie verändert mich.
Michael (Anmerkung: Hier gehts zum Blog von Dr. Michael Adam) erwischt es als ersten. Er war Konsiliarius in einem öffentlichen Peripheriespital. Ein Kind ist nach einer Geburt, für die er zuständig ist und zu spät geholt wird, geschädigt und stirbt nach mehr als einem Jahr. Er wird verurteilt zu einer überdurchschnittlich hohen Strafe.
Es gibt eine Generalprävention gegen “Sanfte Geburt”. Wir sind gewarnt und arbeiten weiter. Ich bin der nächste. Ein Kind stirbt ca. 2 Wochen nach der Geburt, die ich betreut habe. Ich hin für einen Tag ab Vertreter eingesprungen. In diesem Jahr sind in Österreich mehr als 800 Kinder nach der Geburt gestorben, ich bin meines Wissens nach der einzige Arzt, der angeklagt wird. Es herrscht eine grosse Aufbruchsstimmung unter den Kollegen. “Jetzt haben wir ihn.” Es wird alles gut organisiert. Die Frau wird gleich nach der Geburt zu einem als Gerichtsgutachter bekannten Professor gebracht. Er ist als Pionier der “Technisierten Geburtshilfe” bekannt. Sie war noch nie vorher bei ihm gewesen und wurde auch nachher nicht weiterbetreut. Viele Ärzte, vor allem solche mit akademischen Titeln, raten der Familie zu klagen. Die Welt ist plötzlich umgekehrt. Die so oft beklagte Mauer des Schweigens und der Solidarität ist gebrochen. Die etablierte Ärzteschaft ist dafür, dass ein “schwarzes Schaf” verurteilt wird. Der geburtshilfliche Gutachter bezeichnet mein Verhalten als Kunstfehler,
Im neuen Lehrbuch der “Wiener Medizinischen Schule” wird diese Indikation als eine der wichtigsten angesehen. Der Gutachter ist anderer Meinung. Ähnlich ist es beim Kinderarzt. Zu meinem “Fehlverhalten” steht im Lehrbuch wörtlich: “Die Methode der Wahl besteht gegenwärtig in … ” – genau das habe ich gemacht. Die Gutachter kennen nicht einmal das Wiener Lehrbuch. Und ich werde verurteilt, zu einer besonders hohen Strafe. Als strafverschärfend wird meine Uneinsichtigkeit angeführt.
Meine Tochter tröstet mich nach der Verurteilung. Wer tröstet die Familie, deren Tochter gestorben ist? Meine Familie hält zu mir. Der Volk-her ist etwas angeschlagen. Er bleibt stehen und blickt um sich. Ich bin überrascht, wie viele Freunde ich habe. Freunde und Verwandte wollen die Strafe zahlen. Ich erhalte Briefe, Geschenke, eine Frau steht mit einem Blumenstrauss im Wartezimmer: “Bitte hören Sie nicht auf.”
In meiner Ordination muss die Aufnahmesperre ganz streng eingehalten werden. In Nußdorf sind besonders viele Geburtsanmeldungen. Die Frauen haben mich nicht verurteilt.
Die Weltgesundheitsorganisation schickt eine Stellungnahme zu meinem Fall, sie beginnt: “Wir möchten unserer Besorgnis über die Situation in Österreich Ausdruck verleihen … ”
Ich berufe, Der Staatsanwalt verlangt die neuerliche Einvernahme der Gutachter, ein sehr unüblicher Schritt, wie man mir versichert. Der Richter lehnt ab. Die Strafe wird auf S 200.000.- herabgesetzt. Neuerliche Begründung: Uneinsichtigkeit.
Meine Privatgeburten und Nußdorf zusammen ergeben nahezu 2.000 Geburten. Die Säuglingssterblichkeit, Kaiserschnittraten, Anzahl der nach der Geburt auf eine Kinderabteilung verlegten Kinder und sonstige Komplikationen bei Müttern und Kindern sind ein kleiner Bruchteil der in Spitälern üblichen Raten.
Wenige Tage nach meiner Verurteilung muss ich eine Frau bei einer schwierigen Gehurt betreuen. Ich kenne sie gut und weiß, wie wichtig es gerade für sie ist, dass sie “normal” entbindet. Meine Sicherheit gegen ihre Sicherheit. Die Entscheidung ist kurz, dann bin ich voll okkupiert Sie entbindet “normal”. Die Würfel sind gefallen, es geht weiter wie bisher. Geht es so weiter?
Volker ist ein Held des Nibelungenliedes, ausgezeichnet als Ritter und Spiel-mann. Die Sage berichtet, dieselbe Hand führte das Schwert mit unbeugsamer Kraft und den Fiedelbogen mit Feingefühl und Zartheit. Der Volk-her, der Ritter, der Kampf-mann, war immer da. Wo blieb der Spiel-mann? Auch er war da, unbemerkt, für nicht wichtig erachtet, versteckt, Er lernt und wächst unbeachtet. Die Kunst des Heilens ist Spiel-mann-kunst. “Frauenheilkunde” ist Verstehen, Einfühlen und Sorge, sie ist die Kunst des Gebens und Nehmens.
Der Spielmann lernt viel von den Frauen, er bekommt mehr als er erwartet zurück. Er erzählt es dem Kampf-mann weiter, zeigt ihm den “Schatz”, den er erworben hat. Es könnte sich eine Freundschaft entwickeln zwischen beiden. Eine Männerfreundschaft natürlich, Eine gute Basis, um Frauen zu achten, zu verstehen und zu lieben.